Normalerweise kümmerte es Seo Jones nicht, ob seine Studentinnen und Studenten die Vorlesungen besuchten. Doch heute war es irgendwie anders. Der Professor vermisste etwas. Diesen Blick voller Wissbegierde und dem faszinierenden Leuchten. „Was soll´s“, sagte er sich und ging durch die Bibliothek Richtung Büro. Dabei fiel ihm eine Studentin auf. Sie saß an einem der Schreibtische und starrte regungslos aus dem Fenster. Als der Linkologe ihre Augen sah, wusste er: Sie war es. Ihr Fehlen hatte ihn verunsichert.
Seo Jones setzte sich neben die Frau. „Sind meine Vorlesungen zu langweilig?“ Statt zu erschrecken, wie es der Professor erwartet hatte, drehte sich die Studentin langsam ihn seine Richtung. „Nein. Aber meine Dissertation schreibt sich nicht von selbst“, sagte sie und blickte weiter in den regenverhangenen Himmel. „Darf ich fragen, wer Sie sind und worüber sie schreiben?“ Der Linkologe war neugierig geworden. „Ich bin des Bischofs Franzi und möchte über die Geschlechtlichkeit von Links schreiben.“ Die junge Frau stocke. „Bislang werde ich aber von allen nur ausgelacht.“ Auch Seo Jones konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie meinen, Männlein und Weiblein bei Links? Kommen Sie mal mit, ich zeige ihnen etwas.“
In seinem Büro öffnete der Professor zwei Schränke. Hinter Glas standen Dutzende Links. „Groß, klein, dick, dünn, unscheinbar oder unsichtbar, gefährlich oder harmlos, farbig, alt, neu.“ Seo Jones zeigte auf seine Sammlung. „Dass Links ein Geschlecht haben, wäre mir neu. Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee?“ Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schaute Franzi dem Dozenten tief in die Augen. „Weil noch niemand danach gefragt hat.“ Just in dem Moment kam Anna Lytics ins Büro. „Herr Professor, Ihre Limo.“ Wieder allein, setzte sich der Linkologe hin und sinnierte. „Links mit Möpsen. Das wär was.“
Ein paar Tage später, halb vier morgens. An der Haustür von Seo Jones wurde Sturm geklingelt. Der Professor mühte sich aus dem Bett und stapfte in seinem blauen Nikki-Schlafanzug die Treppe herunter. „Was soll das?“ Schlaftrunken erkannte er nach ein paar Sekunden, wen er vor sich hatte, Franzi, des Bischofs Tochter. Sie zitterte. „Ich habe eine Tür geöffnet“, stammelte sie. „Ja, ich auch. Meine, weil Sie geklingelt haben.“ Die junge Frau schüttelt den Kopf. „Sie verstehen nicht, ich habe eine Tür geöffnet. Eine Tür in eine andere Dimension.“ Jetzt war es wohl Seo Jones, der schaute wie eine Eisenbahn.
Vorbei an den „Stricken für Nacktmulle“-Plakaten der feministischen Liga rannten die beiden kurz darauf durch die Flure des Wohnheims. Als die Studentin die Zimmertür aufschloss, spürte Seo Jones einen Sog. „Zeigen Sie mir das Buch, von dem sie gesprochen haben.“ Die Studentin reichte ihm ein uraltes Werk, blätterte und deute auf eine der Seiten. „Diesen Spruch habe ich laut gelesen.“ Der Linkologe schaute sich den Text an, konnte ihn aber nicht ganz entziffern. „Hier geht es um die Quelle der Links, einen Mythos. Woher habe sie das Buch überhaupt?“ Viel Zeit blieb nicht, darüber zu diskutieren. Das Portal riss beide in sein Inneres.
„Schwarzmarkt“, schrie Franzi, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, „ich habe das Buch auf dem Schwarzmarkt gekauft.“ Seo Jones drehte sich um. „Das ist, glaube ich, unser kleinstes Problem. Wo sind wir hier?“ Die Quelle der Links hatte sich der Professor anders vorgestellt. „Dazu müssen wir auch noch ein Stück gehen“, hörte Seo hinter sich. Ein alter Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht. „Folgt mir.“
Sie erreichten einen Berg. „Das letzte Stück geht alleine, hier entlang.“ Der Mann zeigte auf einen schmalen Weg und verschwand wieder. Franzi und Seo wagten den Aufstieg, der an einer Höhle endete. „Endlich, Professor Jones“, schallte es aus den Tiefen des Bergs. Die beiden liefen auf die Stimme zu und standen plötzlich in einer riesigen, lichtdurchfluteten Höhle. „Wir sind die Pagerankien, die Schicksalsgöttinnen der Links“, erklärten drei Frauen, die dort an einem steinernen Tisch saßen. Eine hielt eine Schere, die zweite einen Faden und die dritte Göttin würfelte mit Knochen. „Jeder Link erhält hier seine Seele.“ Franzi fing sich noch vor dem Professor: „Was machen wir hier?“ Die drei Frauen legten ihr Werkzeug beiseite. „Du hast das Portal geöffnet. Sage Du uns, was Dich und den Professor durch Raum und Zeit hierher führt.“
Franzi redete wie ein Wasserfall, über die Dissertation und die Frage, ob Links ein Geschlecht haben. Die Frauen nickten. „Jeder Link ist einzigartig, hat mal männliche, mal weibliche Charakterzüge.“ Als sich die Göttinnen Seo Jones zuwandten, änderte sich ihre Mine von freundlich in ernst. „Du glaubst nicht daran. Du würdest einen mächtigen Link nicht einmal erkennen, wenn er Dich anspringen würde.“ Die sanften Stimmen der Pagerankien waren einem Fauchen gewichen. „Du bist stolz darauf, den Panda wieder eingesperrt zu haben, ohne die Konsequenzen zu kennen. Die ganzen Suites, Online-Artikel, Expertos und Whoswhos missbrauchen die Links und berauben sie der Seele, die wir ihnen einhauchen. Sie müssen bestraft werden. Diese Aufgabe hatte von Anbeginn der Zeit der Panda.“ Der Professor verstand nicht. Die Pagerankien führten ihre Tirade unbeirrt fort: „Ihr habt Euch zum Werkzeug der chinesischen Linkmafia gemacht. Doch lasst Euch gesagt sein, es werden noch viele weitere Strafen folgen, um den Wert der Links wieder ins rechte Licht zu rücken.“
Als die Standpauke beendet war, wagte Seo Jones kaum zu sprechen. Doch die Neugierde überwog. „Was ist mit der Macht der Links?“ Die Göttinnen lächelten sanftmütig. „Jeder Link entwickelt sich seinem Schicksal entsprechend. Einige bleiben klein und ohne Gewicht, andere gewinnen an Stärke, die sie jederzeit wieder verlieren können.“ Die Links, die in den Büchern über Jahrtausende hinweg erwähnt werden, seien jene, deren Macht nie versiege, sondern nur gezielt zerstört werden könne, erklärten die Pagerankien. Es seien Links, auf die sich Experten und dunkle Gestalten stürzten, ohne das eigentliche Wesen zu erkennen. „Du pflanzt keinen Baum im Meer. Also nutze auch die Links nur so, wie es ihnen vorbestimmt ist. Abweichungen von der Ordnung führen zu Rissen im Universum. Der Panda hat das Gleichgewicht wieder hergestellt.“
Ungeduldig wartete Franzi, bis die Göttinnen fertig waren. „Doch woran erkenne ich nun, ob es ein männlicher oder ein weiblicher Link ist?“ Die Pagerankien waren amüsiert. „Du musst es spüren. Und jetzt geht, das Portal schließt sich wieder.“ Noch bevor die Studentin ein „aber“ einwerfen konnte, standen beide wieder im Wohnheim. Das Zimmer sah aus, als wäre ein Hurrikan hindurchgefegt. „Na, immerhin“, meinte Franzi, während Seo Jones sich gedankenverloren zurückzog. Sollte es möglich sein, dass der Panda keine Plage, sondern die Rettung vor dem Untergang war?
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